Vorlagefrist ist keine Ausschlussfrist
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Urteil vom 24.01.2008 – S 3 KR 57/06
(im März 2008 Rechtsanwalt Dr. Johannes Groß)
Es kommt immer wieder vor, dass Krankenkassen ärztliche Verordnungen über häusliche Krankenpflege, die später als drei Arbeitstage bei der Krankenkasse eingereicht worden sind, erst ab dem Tag des Eingangs bei der Krankenkasse bewilligen. Für den Zeitraum bis zur Einreichung bestehe kein Vergütungsanspruch, da die Verordnung „zu spät“ bei der Krankenkasse eingereicht worden sei. Deshalb könne die Leistung erst ab dem Zeitpunkt des Eingangs bei der Krankenkasse bewilligt werden.
Dieser Ablehnungspraxis hat das Sozialgericht Potsdam nunmehr mit Urteil vom 24.01.2008 – S 3 KR 57/06 – eine Absage erteilt. Geklagt hatte ein Pflegedienst, dem für mehrere Verordnungen zum Jahresbeginn für einige Tage die Vergütung verweigert wurde. Die entsprechenden ärztlichen Verordnungen datierten von Ende Dezember und waren für das erste Quartal des Folgejahres ausgestellt. Die Verordnungen mit den entsprechenden Anträgen der Versicherten auf Genehmigung häuslicher Krankenpflege gingen bei der Krankenkasse jedoch erst am 04.01. des Folgejahres ein. Mit entsprechenden Bescheiden gegenüber den Versicherten lehnte die Krankenkasse eine Kostenübernahme für den Zeitraum 01.01. bis 03.01. ab. Die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme seinen nicht erfüllt, da die Verordnung später als drei Arbeitstage nach der Ausstellung (Vorlagefrist) bei der Krankenkasse eingegangen sei. Auch gegenüber dem Pflegedienst genehmigte die Krankenkasse die Leistungserbringung erst für die Zeit ab dem 04.01. Zweifel, dass die Leistungen medizinisch nicht notwendig seien, wurden seitens der Krankenkasse nicht geäußert.
Das Sozialgericht Potsdam entschied, dass die Krankenkasse die Vergütung auch im Zeitraum 01. bis 03.01. zu bezahlen hat. Durch Ziffer 24 der HKP-Richtlinien werde die Vergütung des Pflegedienstes für die erbrachten und medizinisch notwendigen Leistungen nicht beschränkt. Denn Ziffer 24 der HKP-Richtlinien begründe keine Ausschlussfrist, sofern die notwendige Leistung erbracht und die Verordnung erst später als am dritten, der Ausstellung folgenden Arbeitstag der Krankenkasse vorgelegt wird. Zwar bedürfen generell die vom Versicherten durch Vorlage der vertragsärztlichen Verordnung beantragten Leistungen der Genehmigung durch die Krankenkasse. Die zu erbringenden Leistungen, die der Sicherung der ärztlichen Behandlung dienen sollen, müssen jedoch unverzüglich erbracht werden. Ausgehend davon wird auch die Leistung nicht erst ab der Beantragung bzw. der Entscheidung bzw. Genehmigung über die Leistung erbracht, sondern ab dem Zeitpunkt der Verordnung. Denn sonst würde dies dazu führen, dass der betroffene Versicherte bis zur Entscheidung über die Genehmigung ohne die verordneten medizinisch notwendigen Leistungen stehen würde. Daher regele Ziffer 24 der HKP-Richtlinien folgerichtig, dass bis zur Entscheidung über die Genehmigung die verordneten und vom Pflegedienst entsprechend erbrachten Leistungen auch dann vergütet werden, wenn sich bei Prüfung der Verordnung für die Krankenkasse nachträglich herausstellt, dass die Leistung nicht genehmigungsfähig war. Die Regelung ist eine Schutzvorschrift für den Pflegedienst und für die Versicherten, jedoch keine Ausschlussfrist für die zu erbringende Leistung. Dies würde sowohl dem Sinn als auch dem Zweck der HKP-Richtlinien und dem gesamten System der häuslichen Krankenpflege widersprechen. Es würde dazu führen, dass für die verordneten und von der häuslichen Krankenpflege erbrachten Leistungen, die medizinisch notwendig sind, im Gegensatz zu den tatsächlich nicht medizinisch notwendigen Leistungen eine Vergütung verwehrt würde. Dies entspreche nicht dem Sinn und Zweck der Regelung. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat in seiner Beschlussbegründung zu Ziffer 24 der Richtlinien gerade keine Aussage darüber getroffen, dass es sich um eine Ausschlussfrist handeln solle. Im Gegenteil zeige gerade die Begründung der Richtlinie zur Verordnung von spezialisierter ambulanter Palliativversorgung ausdrücklich, dass die dort getroffene inhaltsgleiche Regelung keine Ausschlussfrist darstellt. Der Gemeinsame Bundesausschuss hat in seiner Beschlussbegründung wörtlich dargelegt: „Mit ihr [der Regelung zur Vorlagefrist] wird keine Ausschlussfrist für notwendige Leistungen (…) normiert. Auch wenn die Verordnung verspätet eingereicht wird, besteht bei Vorliegen der Voraussetzung Anspruch bereits vom ärztlich festgelegten Leistungsbeginn an.“
Der Entscheidung des Sozialgerichts Potsdam ist vollumfänglich zuzustimmen. Bisher liegen nur wenige sozialgerichtliche Urteile vor, die sich mit der Vorlagefrist sowie mit anderen formalen Voraussetzungen aus den HKP-Richtlinien befassen. Grundsätzlich können die in den HKP-Richtlinien enthaltenen Form- und Fristvorschriften nicht zum Leistungsausschluss medizinisch notwendiger Leistungen führen. Denn der Anspruch des Versicherten ergibt sich allein aus dem Gesetz (§ 37 SGB V). Die HKP-Richtlinien können diesen Anspruch lediglich konkretisieren, jedoch nicht einschränken. Insoweit fehlt es an einer gesetzlichen Ermächtigung des Gemeinsamen Bundesausschusses, der die Richtlinien festlegt. Im Übrigen hat der Gemeinsame Bundesausschuss selbst nicht die Absicht gehabt, mit den Form- und Fristvorschriften in den HKP-Richtlinien die Ansprüche der Versicherten auf Häusliche Krankenpflege einzuschränken. Diese Interpretation entspricht allein der Auslegung der Krankenkassen, die stets darauf bedacht sind, Leistungen einzuschränken und Vergütungen einzusparen. Für die Pflegedienste ist diese Praxis besonders ärgerlich, da sie im Vertrauen auf die ärztliche Verordnung in Vorleistung gehen und ihnen das Kostenrisiko aufgebürdet wird. Dieses Kostenrisiko liegt jedoch aufgrund der Regelung der Ziffer 24 der HKP-Richtlinien gerade nicht beim Pflegedienst und auch nicht beim Versicherten, sondern allein bei der Krankenkasse. Ziffer 24 der HKP-Richtlinien regelt sachgerecht die Verteilung des Kostenrisikos für Leistungen, die zwischen Antrag und Entscheidung erbracht werden, dahingehend, dass bis zur Entscheidung der Krankenkasse das Kostenrisiko für die bis dahin erforderlichen und erbrachten Leistungen nicht beim Versicherten und auch nicht beim Pflegedienst, sondern bei der Krankenkasse verbleiben soll. Es handelt sich um eine explizite Regelung einer Vertrauenshaftung. Dies wird in erfreulicher Weise nunmehr durch das Sozialgericht Potsdam klargestellt. In Zukunft dürfte es für die Krankenkassen ausgeschlossen sein, sich zur Begründung einer Leistungsablehnung auf die „Versäumung der Vorlagefrist“ für ärztliche Verordnungen zu berufen. Nebenbei bemerkt, gilt dies auch für angeblich nicht vollständig ausgefüllte Verordnungen. Das korrekte Ausfüllen einer ärztlichen Verordnung obliegt dem Arzt. Sollten hierbei Fehler unterlaufen, kann dies nicht zu Lasten des Versicherten und auch nicht zu Lasten der Pflegedienste gehen. Stellt sich heraus, dass die Verordnung inhaltlich berechtigt war, muss die Krankenkasse die Leistung als Sachleistung erbringen und vergüten. Ein Ablehnungsrecht ergibt sich hieraus nicht. Ggf. können Regressansprüche gegenüber dem Arzt bestehen. Die Pflegedienste tragen hierfür jedenfalls nicht das Risiko.
Tipp für die Praxis:
Prüfen Sie jede Leistungsablehnung der Krankenkasse daraufhin, ob diese allein auf formalen Kriterien beruht. Insbesondere das Überschreiten der Vorlagefrist (oder auch Karenzzeit) kann nicht zu einem Leistungsausschluss führen. Auch formale Mängel der Verordnung können dann nicht zu einer Leistungsablehnung führen, wenn unzweifelhaft ist, dass die Leistung medizinisch notwendig ist.