Sozialgericht Chemnitz verpflichtet Krankenkasse zur Gewährung häuslicher Krankenpflege in Form der Behandlungspflege als 24-Stunden-Intensivpflege
Sozialgericht Chemnitz, Beschluss vom 31.08.2016 (rechtskräftig) – S 10 KR 237/16 ER
Das Sozialgericht Chemnitz hat eine Krankenkasse zur Gewährung häuslicher Krankenpflege in Form der Behandlungspflege als 24-Stunden-Intensivpflege für ein bei ihr krankenversichertes Schulkind verurteilt.
Folgender Sachverhalt lag zugrunde:
Die Kinderärztin verordnete für die Versicherte häusliche Krankenpflege in Form der Behandlungspflege als 24-Stunden-Intensivpflege. Als Diagnosen wurde u.a. die Störung des Aminosäurestoffwechsels genannt. Die Krankenkasse lehnte eine spezielle Krankenbeobachtung ab und bezog sich zur Begründung auf das MDK-Gutachten nach Aktenlage, nach dem bei dem Kind intermittierend okulogyre Anfälle auftreten. Nach solchen Anfällen komme es oft zu einem Erschöpfungszustand. Atemstillstände oder Ateminsuffizienzen gehörten aber nicht zu diesem Krankheitsbild. Das versicherte Kind leide jedoch auch an „unerklärbaren Asthmaanfällen“. Schwere Asthmaanfälle seien durch das Notarztsystem zu versorgen. Verlegungen der Luftwege, eine Schluckstörung und/oder Aspirationen mit der Notwendigkeit endotrachealer Absaugungen und einer Beatmung seien aus den Unterlagen jedoch nicht zu entnehmen. Eine allgemeine
Krankenbeobachtung sei Bestandteil der grundpflegerischen Versorgung. Die Voraussetzungen für eine spezielle Krankenbeobachtung seien damit nicht erfüllt. Es werde jedoch eine
fachärztliche Diagnostik angeregt, um umgehend einen Ausschluss einer eventuell vorhandenen Atemstörung zu dokumentieren. Ebenso empfohlen wird eine fachneurologische Diagnostik zur Abklärung der Anfälle und zum Ausschluss eines eventuell zusätzlich vorhandenen Krampfleidens. Sollten sich im Ergebnis dieser Diagnostik Hinweise auf die Notwendigkeit einer speziellen Krankenbeobachtung ergeben (Schluckstörung mit ständiger Aspirationsgefahr, „echte“ Atemstillstände z. B. im Rahmen einer zentralen Atemstörung oder medikamentös nicht
zu beherrschendes Krampfleiden), werde um Wiedervorlage gebeten.
Im Widerspruchsverfahren wurde ergänzend darauf hingewiesen, dass die Versicherte etwa alle 3 Tage unter den okulogyren Krisen leide, in denen sie auf individuelle medizinische Einzelbetreuung angewiesen sei. Dies gelte insbesondere, da es regelmäßig zu unerklärbaren Asthmaanfällen mit deutlichen Ateminsuffizienzen komme. Der Fahrdienst, der die Versicherte von zu Hause in die
Schule und wieder zurück transportiert, wies darauf hin, dass die Versicherte immer wieder Anfälle mit akuter Atemnot bekomme. Auch die Kinderärztin bestätigte, dass die Versicherte in der Vergangenheit bereits mehrfach akute Atemnotzustände mit einer akuten respiratorischen Insuffizienz erlitt. Die Schule bestätige das Auftreten epileptischer Anfälle bei der Antragstellerin, sowie das Auftreten von Ateminsuffizienzen und Atemstillständen bei Asthmaanfällen.
Die Krankenkasse verwies demgegenüber darauf, dass nach Nr. 24 des Leistungsverzeichnisses zu den Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen (GBA) über die Verordnung häuslicher Krankenpflege eine spezielle Krankenbeobachtung nur verordnungsfähig sei, wenn „mit hoher Wahrscheinlichkeit sofortige pflegerische/ärztliche Intervention bei lebensbedrohlichen Situationen täglich erforderlich ist und nur die genauen Zeitpunkte und das genaue Ausmaß nicht im Voraus bestimmt werden können“. Bei der Antragstellerin treten jedoch lediglich intermittierend okulogyre Anfälle auf. Atemstillstände oder Ateminsuffizienzen gehörten nicht zu diesem Krankheitsbild.
Im gerichtlichen Verfahren wurden diverse fachärztlichen Befundberichte eingeholt, nach deren Ergebnis die Versicherte im Rahmen der okulogyren Krisen auch akute respiratorische Insuffizienzen erleiden könne. Aufgrund einer chronischen Entzündungsreaktion an der Bronchialschleimhaut komme es zu wechselnden Sekretbildungen. Die Versicherte benötige für die Sekretmobilisation Hilfe und Überwachung, da sie eine selbständige Sekretmobilisation nicht in ausreichender Form realisieren könne. Es drohe eine Erstickungsgefahr.
Die Krankenkasse blieb jedoch bei ihrer Auffassung, dass die medizinischen Voraussetzungen für eine spezielle Krankenbeobachtung nicht erfüllt seien. Akute respiratorische Insuffizienz oder gar Atemstillstände sowie entsprechende therapeutische Maßnahmen/Notarzteinsätze seien in den vorliegenden Unterlagen nicht dokumentiert. Sie treten jedenfalls nicht täglich auf.
Das SG wies die Argumentation der Krankenkasse zurück. Soweit der GBA zur speziellen Krankenbeobachtung festgelegt habe, dass eine ständige Beobachtung voraussetze, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit täglich mit den entsprechenden lebensbedrohlichen Zuständen zu rechnen ist und diese tägliche Auftretens bei der Versicherten nicht erfüllt sei, schließe dies den Anspruch nach dem Urteil des BSG vom 10.11.2005, Az.: B 3 KR 38/04 R, nicht aus. Auch die allgemeine Krankenbeobachtung kann eine Leistung der häuslichen Krankenpflege sein, wenn ärztliche oder pflegerische Maßnahmen zur Abwendung von Krankheitsverschlimmerungen eventuell erforderlich, aber konkret nicht voraussehbar sind. Das Gericht versteht das angeführte BSG-Urteil so, dass bei einer allgemeinen Krankenbeobachtung nicht vom GBA festgelegt ist, dass die lebensbedrohlichen Umstände mit hoher Wahrscheinlichkeit täglich auftreten müssen. Im vorliegenden Fall leide die Antragstellerin unter epileptischen Anfällen, die mit der Gefahr eines Erstickungstodes verbunden sind. Überdies könnten die respiratorischen Insuffizienzen auch durch andere Krankheiten als die epileptischen Anfälle verursacht sein. Es sei nachgewiesen, dass bei der Versicherten in der Vergangenheit Atemnotstände eingetreten sind. Die epileptischen Krisen treten etwa durchschnittlich alle 3 Tage auf. Es ist lediglich nicht klar, wann genau diese Krisen eintreten. Damit ist nach Ansicht des Gerichts eine ständige allgemeine Krankenbeobachtung bei der Versicherten erforderlich, verbunden mit der Durchführung der nach Lage der Dinge jeweils gebotenen konkreten Maßnahmen.
mitgeteilt von Dr. Johannes Groß am 17.05.2018