Bundessozialgericht verweigert Pflegediensten nach Tod des Pflegebedürftigen die Geltendmachung des Anspruchs gegen Sozialhilfeträger
Bundessozialgericht – Urteil vom 13.7.2010, B 8 SO 13/09 R
Für den Fall des Todes eines pflegebedürftigen Menschen sieht § 19 Abs. 6 SGB XII vor, dass dessen Anspruch auf Hilfe zur Pflege gegen den Sozialhilfeträger auf die Einrichtung übergeht. Während stationäre Einrichtungen für ihre erbrachten Leistungen nach dem Tod des Hilfeempfängers auch bei laufendem Bewilligungs- bzw. Widerspruchsverfahren noch Vergütung beanspruchen können, wird ambulanten Pflegediensten dieser Anspruch gegen die Sozialhilfeträger verweigert. Sie erhalten für die erbrachten, aber noch nicht bzw. ausreichend bewilligten Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem Tod des Hilfeempfängers keinerlei Vergütung. Diese Ungleichbehandlung hat das Bundessozialgericht nunmehr gebilligt.
Im Streit stand folgender Fall: Der Sozialhilfeträger gewährte der Hilfeempfängerin mit Bescheid vom 3.1.2006 rückwirkend Hilfe zur Pflege gemäß § 65 Abs. 1 SGB XII für die Zeit ab 1.6.2005, allerdings in wesentlich geringerem Umfang als beantragt. Gegen diese nicht ausreichende Bewilligung legte die Hilfeempfängerin Widerspruch ein und verwies auf den Umfang notwendigen erbrachten Leistungen und das Pflegegutachten des MDK, der die Voraussetzungen der Pflegestufe II festgestellt hatte. Während des Widerspruchsverfahrens verstarb die Hilfeempfängerin.
Der Pflegedienst zeigte sodann dem Sozialhilfeträger unter Berufung auf § 19 Abs. 6 SGB XII seinen Eintritt in dieses Verfahren an und beantragte die Übernahme der ihm für die Pflege der Hilfeempfängerin in der Zeit vom 1.6.2005 bis 31.12.2005 entstandenen, noch ungedeckten Kosten in Höhe von 14.741,75 Euro. Der Sozialhilfeträger wies den Widerspruch des Pflegedienstes zurück und berief sich auf die fehlende Anwendbarkeit des § 19 Abs. 6 SGB XII für ambulante Dienste. Die genannte Vorschrift beziehe sich nur auf Leistungen für Einrichtungen oder auf Pflegegeld.
Nachdem die Klage und die Berufung gegen die Ablehnung der Kostenerstattung erfolglos waren, zog der Pflegedienst mit der Revision vor das Bundessozialgericht. Er ist der Auffassung, § 19 Abs. 6 SGB XII erfasse nach dem Willen des Gesetzgebers auch ambulante Pflegedienste und damit auch ambulante Pflegeleistungen gem. § 65 SGB XII. Der Zweck des § 19 Abs. 6 SGB XII und der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG) geböten eine Einbeziehung ambulanter Pflegedienste, weil auch diese in ihrem berechtigten Vertrauen auf die Übernahme der Kosten durch den Sozialhilfeträger schutzwürdig seien und deren Einbeziehung letztlich die Erbringung einer schnellen Hilfe durch Dritte im Sinne des Hilfebedürftigen fördere. Ein sachlicher Grund für die Differenzierung zwischen stationären Einrichtungen und ambulanten Diensten sei nicht erkennbar. Zudem seien stationäre Einrichtungen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Stärke eher in der Lage, finanzielle Ausfälle zu verkraften, als kleinere ambulante Dienste, die daher in einem höheren Maße schutzbedürftig seien. Eine andere Auslegung der Norm widerspreche dem im Gesetz formulierten Grundsatz „ambulant vor stationär“ und würde ambulante Pflegedienste bei vergleichbarer Interessenlage in nicht zu rechtfertigender Weise gegenüber stationären Einrichtungen benachteiligen. § 19 Abs. 6 SGB XII liege ein weiter Einrichtungsbegriff zugrunde. Schließlich seien als Pflegegeld im Sinne des § 19 Abs. 6 SGB XII zumindest auch Leistungen nach § 65 SGB XII zu verstehen.
Dem widersprach nun das Bundessozialgericht. Der Pflegedienst habe keinen Anspruch auf Übernahme der ungedeckten Kosten für die der Hilfeempfängerin in der Zeit vom 1.6. bis 31.12.2005 erbrachten ambulanten Pflegeleistungen aus § 19 Abs 6 SGB XII. Danach steht der Anspruch der Berechtigten auf „Leistungen für Einrichtungen“ oder auf Pflegegeld nach ihrem Tode demjenigen zu, der die Leistung erbracht oder die Pflege geleistet hat. Die Vorschrift regle einen besonderen Fall der Sonderrechtsnachfolge. Leistungen zur häuslichen Pflege seien keine „Leistungen für Einrichtungen“ im Sinne des § 19 Abs 6 SGB XII. Der Gesetzgeber unterscheide zwischen „Leistungen außerhalb von Einrichtungen“ (ambulante Leistungen) und Leistungen in teilstationären oder stationären Einrichtungen (teilstationäre oder stationäre Leistungen). Beide Begriffe würden in § 13 Abs. 1 SGB XII in gesetzestypischer Weise definiert. Ambulante Leistungen würden hiernach „außerhalb von Einrichtungen“ erbracht; ambulante Dienste seien mithin gerade nicht Einrichtungen. Der Begriff „Einrichtung“ sei bereits nach dem Rechtsverständnis des BSHG der Oberbegriff für „Anstalten“, „Heime“ und „gleichartige Einrichtungen“. Nach der vom Bundesverwaltungsgericht zu dieser Vorschrift entwickelten Rechtsprechung handle es sich bei einer Einrichtung um einen in einer besonderen Organisationsform zusammengefassten Bestand von personellen und sächlichen Mitteln unter verantwortlicher Trägerschaft, der auf gewisse Dauer angelegt und für einen wechselnden Personenkreis zugeschnitten ist und Leistungen der Sozialhilfe erbringt. Wesentliches Merkmal einer Einrichtung sei seit jeher die räumliche Bindung an ein Gebäude. Dies treffe für Leistungen ambulanter Dienste nicht zu.
Eine Gleichstellung ambulanter Leistungserbringer mit stationären bzw. teilstationären Leistungserbringern sei auch nicht vor dem Hintergrund des Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) geboten. Der Gleichheitssatz verbiete es, eine Gruppe von Normadressaten im Verhältnis zu anderen Normadressaten anders zu behandeln, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede solcher Art und solchen Gewichts bestehen, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigten könnten. Wesentlich Gleiches müsse gleich und wesentlich Ungleiches ungleich behandelt werden. Dabei obliege es grundsätzlich dem Gesetzgeber, die Sachverhalte auszuwählen, an die er dieselbe Rechtsfolge knüpft, die er somit im Rechtssinne als gleich ansehen will, soweit die Auswahl sachgerecht sei, was anhand der Besonderheiten des jeweiligen Sachverhalts zu beurteilen ist. Die Anforderungen an den Differenzierungsgrund werden durch den Regelungsgegenstand und das Differenzierungskriterium bestimmt und reichen vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Die Situation ambulanter Leistungserbringer sei mit der Situation der Erbringer von stationären bzw. teilstationären Leistungen nicht vergleichbar. Deren unterschiedliche Behandlung stelle im Hinblick auf den Anspruchsübergang nach § 19 Abs 6 SGB XII keine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung dar. Durch den Anspruchsübergang sollen die Träger einer Einrichtung, die Hilfe zur Pflege erbracht haben, und Pflegepersonen im Sinne von nahen Angehörigen des Pflegebedürftigen, die Pflege geleistet haben, in ihrem Vertrauen auf die Gewährung von Leistungen geschützt werden. Die besondere Schutzwürdigkeit dieses Vertrauens resultiere bei Pflegepersonen aus dem Umstand der geleisteten persönlichen Pflege aufgrund einer emotionalen Verbundenheit mit dem Pflegebedürftigen und der damit verbundenen Entlastung der Solidargemeinschaft. Das Vertrauen von Einrichtungen, die (teil-)stationäre Leistungen erbringen, sei besonders schutzwürdig. (Teil-)Stationäre Pflege werde im Regelfall gewährt, wenn ambulante Hilfen nicht ausreichend sind, was insbesondere dann der Fall sei, wenn der Hilfebedürftige in einem zunehmenden Maße pflegebedürftig werde. Dem in § 13 Abs 1 Satz 3 bis 5 SGB XII normierten Regel-Ausnahme-Verhältnis („ambulant vor stationär“) könne entnommen werden, dass der Gesetzgeber grundsätzlich von höheren Kosten für die (teil-)stationäre Pflege im Vergleich zur ambulanten Pflege ausgehe. Das Kostenrisiko sei für den Erbringer (teil-)stationärer Leistungen typischerweise größer als für einen ambulanten Leistungserbringer. Zudem dürften Einrichtungsträger ihre Leistungen im Regelfall in größeren zeitlichen Abständen abrechnen, sodass sie eher gefährdet seien, den Anspruch auf Leistungen in einem größeren Umfang durch den Tod des Hilfeberechtigten zu verlieren. Dieser Unterschied rechtfertige die Beschränkung des in § 19 Abs. 6 SGB XII geregelten Anspruchsübergangs auf die Erbringer von (teil-)stationären Leistungen. Dass im Einzelfall die Kosten für die geleistete ambulante Pflege den Umfang der Kosten einer (teil-)stationären Pflege erreichen oder auch übersteigen, stehe dem nicht entgegen. Der Gesetzgeber könne typisierende und generalisierende Regelungen treffen; die dabei entstehenden Härten und Ungerechtigkeiten müssten hingenommen werden, wenn die Benachteiligung nur eine kleine Zahl von Personen betreffe und der Verstoß gegen den Gleichheitssatz nicht sehr intensiv sei.
Der Entscheidung des Bundessozialgerichts ist entschieden zu widersprechen. Sie ist verfassungsrechtlich bedenklich. Eine Ungleichbehandlung zwischen ambulanter und stationärer Pflege ist hier schlichtweg nicht zu rechtfertigen. Die Situation ambulanter Leistungserbringer und die der Erbringer von stationären bzw. teilstationären Leistungen ist gerade im Hinblick auf die Interessenlage bei Tod eines gepflegten Menschen sehr wohl vergleichbar. Dies bedeutet für Einrichtungsträger ebenso wie für Pflegedienste ein erhebliches Risiko, da sie mit ihren Leistungen zumeist in Vorleistung treten und auf die Kostenerstattung durch den Sozialhilfeträger angewiesen sind. Das Vertrauen ambulanter Pflegedienste auf die Gewährung von Leistungen durch den Sozialhilfeträger ist um keinen Deut weniger schutzwürdig als die stationärer bzw. teilstationärer Einrichtungen. Ein Schutz ist für alle Versorgungsformen bei der in der Regel aufwendigeren Pflege vor dem Tod eines pflegebedürftigen Menschen erforderlich. Es kann nicht sein, dass die ambulanten Leistungserbringer gerade in dieser Situation trotz berechtigten Vertrauens auf Leistungen der Sozialhilfe leer ausgehen. Dass in stationären Einrichtungen in der Regel höhere Kosten als in der ambulanten Pflege entstehen, ist nicht zutreffend und könnte im Übrigen eine Ungleichbehandlung auch nicht rechtfertigen. Ebenso wenig kann eine unterschiedliche Abrechnungspraxis – so sie denn überhaupt besteht – eine Ungleichbehandlung rechtfertigen. Die Unterscheidung zwischen ambulanter und stationärer Pflege ist hier nahezu willkürlich. Der Gleichheitssatz verbietet es, diese beiden Leistungserbringer unterschiedlich zu behandeln, weil zwischen beiden Gruppen im Hinblick auf die Situation des Vertrauens auf die geleistete Pflege keine Unterschiede solcher Art und solchen Gewichts bestehen, dass sie eine Ungleichbehandlung rechtfertigten könnten.
Abgesehen hiervon ist der Begriff der „Einrichtung“ in § 13 Abs. 2 SGB XII weniger eng zu verstehen als das BSG meint. In der Vorschrift ist vielmehr ein prinzipiell weites Verständnis des Einrichtungsbegriffs angelegt; die im Bundessozialhilfegesetz noch enthaltene sprachlich differenziertere Fassung mit der Unterscheidung in Anstalten, Heime und „gleichartige“ Einrichtungen ist erkennbar aufgegeben worden, um der weiteren Flexibilisierung und Diversifizierung des Angebots Rechnung zu tragen. Wie sind etwa „Einrichtungen“ des Betreuten Wohnens oder Betreute Wohngemeinschaften zu bewerten, in denen die Bewohner ambulante Leistungen erhalten, die aber gleichwohl eine „räumliche Bindung an ein Gebäude“ aufweisen? Diese betreuten Wohnformen wären nach den im Urteil aufgestellten Grundsätzen wohl unter den Begriff der Einrichtung im Sinne von § 19 Abs. 6 SGB XII zu fassen, so dass eine Differenzierung zwischen ambulanten und stationären Einrichtungen im Hinblick auf den Anspruchsübergang bei Tod der Patienten noch fragwürdiger wäre.
Tipp für die Praxis:
Setzen Sie die Sozialhilfeträger bei zu lange andauerndem Bewilligungsverfahren mit Hinweis auf § 19 Abs. 6 SGB XII unter Druck, die notwendigen und erbrachten Leistungen anzuerkennen. Sichern Sie den Umfang durch möglichst aktuelle Bedarfsfeststellungen durch das Sozialamt ab. Es kann bei der bestehenden Rechtsprechung nicht von Ihnen verlangt werden, ohne jegliche Absicherung auf eigenes Risiko in Vorleistung zu gehen.