Wundversorgung bei nicht entzündeter Katheteraustrittstelle als häusliche Krankenpflege?
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen – L 1 KR 81/10 – Urteil vom 22.12.2010
Immer wieder lehnen Krankenkassen das Anlegen und Wechseln von Wundverbänden bei suprapubischem Katheter mit der Begründung ab, es sei keine behandlungsbedürftige Wunde vorhanden, die Leistung zähle daher zur Grundpflege nach dem SGB XI. Diese Begründung vermag eine Ablehnung der beantragten häuslichen Krankenpflege nicht zu rechtfertigen, wie das LSG Niedersachsen-Bremen feststellte.
Zum Sachverhalt: Ein Versicherter leidet unter zahlreichen Erkrankungen, u.a. einer Harnröhren- und Nierenerkrankung. Er ist mit einem suprapubischen Katheter zur Harnableitung versorgt. Die Krankenkasse hatte ihm zunächst auf der Grundlage einer Erstverordnung den Wechsel des Katheterverbandes durch den Pflegedienst als häusliche Krankenpflege bewilligt. Die Folgeverordnung lehnte die Krankenkasse sodann ab, da der Verbandwechsel bei einem suprapubischen Katheter nur übernommen werde, wenn eine behandlungsbedürftige Wunde vorhanden sei. Nach Rücksprache mit dem Pflegedienst sei keine Wunde vorhanden. Der Verbandwechsel gehöre daher zur Grundpflege und könne nicht im Rahmen der häuslichen Krankenpflege abgerechnet werden. Hiergegen legte der Versicherte Widerspruch ein. Er führte zur Begründung aus, dass der Wechsel der Schutzkompressen auf der Katheteraustrittsstelle medizinisch notwendig sei und dass er diese Leistung nicht selbst erbringen könne. Die Krankenkasse wies den Widerspruch zurück. Das Anlegen und Wechseln von Wundverbänden / Verbandwechsel bei suprapubischen Katheter falle bei unauffälligem Befund in den Bereich der Grundpflege. Im Rahmen des folgenden Klageverfahrens hat das Sozialgericht die Krankenkasse verurteilt, den Kläger von den Kosten für Verbandwechsel bei suprapubischen Katheter freizustellen. Unabhängig von der Intensität der jeweils notwendigen Verrichtung sei die Versorgung der Katheteraustrittstelle unzweifelhaft unaufschiebbar dreimal pro Woche notwendig. Auch wenn es sich um die Versorgung einer reiz- und wundlosen Katheteraustrittstelle handle, sei dies eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Dem stehe nicht entgegen, dass unter der Rubrik „Bemerkung“ in dem Verzeichnis verordnungsfähiger Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege bei Nr. 22 auf Nr. 28 (Stomabehandlung) verwiesen werde und dort der Verbandwechsel in Verbindung mit akuten entzündlichen Veränderungen mit Läsionen der Haut für verordnungsfähig erklärt werde. Dieser Hinweis enthalte keine nähere Definition der Voraussetzungen bzw. des Umfangs der in der Rubrik „Leistungsbeschreibung“ aufgeführten Maßnahmen. Insbesondere fehle der Hinweis darauf, dass eine Versorgung eines suprapubischen Katheters durch Verbandwechsel nur unter den Voraussetzungen der Ziff. 28 des Leistungsverzeichnisses verordnungsfähig sei.
Gegen das Urteil des Sozialgerichts hat die Krankenkasse Berufung eingelegt. Sie hat zur Begründung ausgeführt, die Nr. 22 des Leistungsverzeichnisses setze voraus, dass der Verbandwechsel in Verbindung mit akuten entzündlichen Veränderungen mit Läsionen der Haut erforderlich sei. Dies ergebe sich daraus, dass unter der Rubrik „Bemerkung“ in dem Verzeichnis von Nr. 22 auf Nr. 28 verwiesen werde. Der Hinweis „siehe Stomabehandlung“ bedeute, dass die Voraussetzungen der Nr. 28 für Nr. 22 vorausgesetzt werden müssten. Das Landesssozialgericht wies die Berufung der Krankenkasse zurück. Die beklagte Krankenkasse habe eine notwendige Leistung zu Unrecht abgelehnt. Hierdurch seien dem Kläger auch Kosten entstanden. Bei der Versorgung des suprapubischen Katheters handle es sich um eine Leistung der Behandlungspflege i.S.d § 37 Abs 2 SGB V und nicht um eine Leistung der Grundpflege.Zur Grundpflege zählten pflegerische Leistungen nicht medizinischer Art für den menschlichen Grundbedarf, bei denen im Gegensatz zu den Maßnahmen der Behandlungspflege nicht der Behandlungs- und Heilzweck im Vordergrund stehe und deren Ausführung nicht von medizinischer Kunstfertigkeit und medizinischen Kenntnissen geprägt sei. Zwar gehörten zu den gewöhnlichen und regelmäßigen wiederkehrenden Verrichtungen der Grundpflege auch die Darm- und Blasenentleerung. Der Verbandwechsel bei suprapubischen Katheter falle aber unter die Behandlungspflege, denn die Pflegemaßnahme sei durch eine bestimmte Erkrankung verursacht (Harn- und Nierenerkrankung), speziell auf den Gesundheitszustand des Versicherten ausgerichtet und solle dazu beitragen, die Behandlungsziele der ärztlichen Behandlung HYPERLINK „//dejure.org/gesetze/SGB_V/27.html“ o „§ 27 SGB V: Krankenbehandlung“ „_blank“ zu erreichen.
Nach dem ausdrücklichen Wortlaut der Nr. 22 des Verzeichnisses der HKP-Richtlinie gehöre der Verbandwechsel der Katheteraustrittstelle einschließlich Pflasterverband und einschließlich Reinigung des Katheters „zu den verordnungsfähigen Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege“. Eine einschränkende Auslegung, dass der Verbandwechsel nur bei akut entzündlichen Veränderungen der Katheteraustrittsstelle dazugehört, ergebe sich aus dem Wortlaut nicht. Eine andere Auslegung ergebe sich auch nicht aus dem systematischen Zusammenhang. Zwar verweise Nr. 22 in der Spalte „Bemerkung“ auf Nr. 28. Diese lautet „Stomabehandlung – Desinfektion der Wunde, Wundversorgung, Behandlung mit ärztlich verordneten Medikamenten, Verbandwechsel und Pflege von künstlich geschaffenen Ausgängen (z.B. Urstoma, Anuspraeter) bei akuten entzündlichen Veränderungen mit Läsionen der Haut. In Nr. 22 sei anders als in Nr. 28 ausdrücklich auch der Pflasterverband dem Verbandwechsel zugeordnet. In der Nr. 28 befinde sich zudem der Zusatz „bei akuten entzündlichen Veränderungen mit Läsionen der Haut“ bereits ausdrücklich in der Leistungsbeschreibung. Ein Hinweis in Nr. 22 darauf, dass eine Versorgung des suprapubischen Katheters durch Verbandwechsel nur unter den Voraussetzungen der Nr. 28 des Leistungsverzeichnisses verordnungsfähig sei, fehle jedoch. Der Hinweis auf die Nr. 28 in der Spalte „Bemerkung“ der Nr. 22 führe zu keiner anderen Beurteilung. Durch den schlichten Hinweis „siehe Stomabehandlung Nr. 28“ könne der Leistungsumfang der Nr. 22 nicht eingeschränkt werden. Vielmehr handle es sich lediglich um einen Hinweis auf eine vergleichbare Leistung. Anderenfalls wäre bei jeder Ziffer, bei der ein entsprechender Hinweis unter der Rubrik „Bemerkung“ aufgeführt ist, der Tatbestand der dort genannten Ziffer als Voraussetzung für die Verordnungsfähigkeit mitzuprüfen. Dies widerspräche jedoch dem Sinn der „Leistungsbeschreibung“.
Dem Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen ist zuzustimmen. Krankenkassen können nicht zusätzlich zu der Leistungsbeschreibung in den HKP-Richtlinien noch weitere Voraussetzungen fordern. Allein der Verweis auf andere Leistungen erweitert die Verordnungsfähigkeit nicht. Zudem verweist Nr. 28 in der Spalte „Bemerkung“ ihrerseits auf Nrn. 27 und 29. In Nr. 27 (PEG) wird der Wechsel der Schutzauflage aber auch ohne entzündliche Veränderungen der Wunde als Leistung der medizinischen Behandlungspflege qualifiziert – also vergleichbar der Nr. 22. In Nr. 29 (Trachealkanüle)
muss ebenfalls keine Entzündung als Leistungsvoraussetzung der medizinischen Behandlungspflege vorliegen. Eine über den Wortlaut hinaus gehende Auslegung der Leistungsbeschreibung im Verzeichnis verordnungsfähiger Maßnahmen ist nicht möglich, weil dadurch der Anspruch der Versicherten unzulässig eingeschränkt würde. Ein Spielraum des MDK oder der Krankenkasse für einschränkende Auslegung besteht nicht.
Tipp für die Praxis: Die HKP-Richtlinien und das zugehörige „Verzeichnis verordnungsfähiger Maßnahmen“ sind die tägliche Arbeitsgrundlage in der ambulanten Pflege. Bei Ablehnungsentscheidungen, die sich auf den Wortlaut des Verzeichnisses beziehen, sollte man diese genau lesen. Einschränkende Auslegungen des MDK oder der Krankenkasse sind nicht zulässig. Hier lohnt sich ein Widerspruch des betroffenen Versicherten. Der Pflegedienst selbst kann gegen die Ablehnungsentscheidung der Krankenkasse in der Regel keinen Widerspruch einlegen.