Maßnahmenbescheide nicht bestandskräftig werden lassen
Nach Qualitätsprüfungen des MDK ergehen in der Regel so genannte Maßnahmenbescheide der Pflegekassen, mit denen die Pflegeeinrichtungen unter Fristsetzung aufgefordert werden, die vom MDK „festgestellten“ Qualitätsdefizite zu beseitigen. Jede Pflegeeinrichtung muss bei Erhalt eines solchen Maßnahmenbescheids sorgfältig prüfen, ob die Feststellungen des MDK zutreffen und ob die gesetzte Frist ausreicht, um die Mängel zu beseitigen. Ansonsten drohen vertragliche Konsequenzen bis hin zur Kündigung des Versorgungsvertrages. Außerdem ist zu prüfen, ob auch der zur MDK-Qualitätsprüfung erstellte Transparenzbericht angefochten werden soll. Ist man mit dem Transparenzbericht nicht einverstanden, sollte auch der Maßnahmenbescheid angefochten werden, damit die dort enthaltenen „Feststellungen“ des MDK nicht bestandskräftig werden.
Dass sich ein Vorgehen gegen den Maßnahmenbescheid lohnen kann, zeigt eine Entscheidung des Sozialgerichts Münster vom 19.01.2010 (S 6 P 201/09 ER). Folgender Sachverhalt lag zugrunde:
Der MDK führte in der Pflegeeinrichtung eine Qualitätsprüfung (Regelprüfung) gemäß den §§ 114 ff. SGB XI durch. In der zusammenfassenden Beurteilung des Prüfberichts heißt es einleitend, dass die Pflegedienstleitung an der Prüfung wegen Urlaubs nicht habe teilnehmen können. Untersuchungen von fünf per Zufallsstichprobe ausgewählter Patienten hätten ergeben, dass der Pflegezustand im Bereich der Körperpflege in einem Fall sehr gut, im Übrigen nicht ganz befriedigend gewesen sei. Die individuelle Planung und Umsetzung des Pflegeprozesses sei den Pflegedokumentationen nicht im erforderlichen Maße zu entnehmen. Vor allen Dingen im Bereich der Kontrakturgefahr und bei bereits bestehenden Kontrakturen erfolge keine systematische Risikoerfassung. Die Durchführung erforderlicher Maßnahmen sei anhand der Pflegedokumentation nicht erkennbar. Die behandlungspflegerischen Leistungen würden von der Einrichtung überwiegend korrekt durchgeführt. Lediglich bei einem Bewohner wäre der Kompressionsverband nicht fachgerecht angelegt worden. Die Kommunikation mit dem Arzt sei überwiegend ersichtlich. Die Durchführung entspreche immer der ärztlichen Anordnung. Die verordneten Medikamente seien nicht immer korrekt dokumentiert. Der Umgang mit Medikamenten sei nicht sach- und fachgerecht. Im Rahmen der Qualitätsprüfung habe ein sachgerechter Umgang bei den auf den Pflegebedürftigen bezogenen Aspekten nicht in ausreichendem Umfang festgestellt werden können. Dies gelte insbesondere in den Bereichen Mobilität mit Sturzrisiko und Dekubitusgefahr, Ernährung und Flüssigkeitsversorgung, Inkontinenz, Demenz sowie Körperpflege. Meist seien diese Aspekte unzureichend in den Pflegedokumentationen dargestellt. Der Prüfbericht enthält einen ausführlichen Katalog von Empfehlungen zur Beseitigung von Qualitätsdefiziten. Als Frist zur Umsetzung der aufgeführten Maßnahmen wurde überwiegend „ab sofort“, teilweise innerhalb eines, zwei oder drei Monaten angegeben.
Im Rahmen der Anhörung hat die Pflegedienstleitung in einer ausführlichen, eingehenden Stellungnahme den im Prüfbericht dargelegten Qualitätsmängeln widersprochen. Die Feststellungen der Prüfer seien weitgehend unzutreffend. In einigen wenigen Punkten wurde eine Nachbesserung zugesagt.
Die Pflegekassen erteilten sodann einen Bescheid über die zu treffenden Maßnahmen zur Beseitigung von Qualitätsdefiziten. Vor der Auflistung der Maßnahmen führten die Pflegekassen aus, dass zwischenzeitlich begonnene, erledigte oder nachgewiesene Maßnahmen in diesem Bescheid teilweise dennoch aufgeführt würden. Hierdurch werde dokumentiert, dass die auferlegten Maßnahmen eine Dauerwirkung hätten und permanent erfüllt sein müssten. Anschließend stellten die Pflegekassen fest, dass die Pflege nach dem Prinzip der Bezugspflege organisiert und durchgeführt werden müsse. Die Personaleinsatzplanung habe sich daher am Versorgungs- und Pflegebedarf der Patienten zu orientieren, wobei eine personelle Kontinuität in der pflegerischen Versorgung und sozialen Betreuung zu gewährleisten sei. Beim Einsatz von Pflegehilfskräften sei nachweislich sicherzustellen, dass Pflegefachkräfte die fachliche Überprüfung des Pflegebedarfs, die Anleitung der Hilfskräfte und Kontrolle der geleisteten Arbeit gewährleisteten. Im Rahmen des Qualitätsmanagements seien die Expertenstandards zu berücksichtigen. Der Expertenstandard „Förderung der Kontinenz“ sei zu implementieren und anzuwenden. Die Pflegeeinrichtung habe ein geeignetes Pflegedokumentationssystem vorzuhalten. Die Pflegedokumentation sei sachgerecht und kontinuierlich zu führen. Aus den Unterlagen der Pflegedokumentation müsse jederzeit der aktuelle Verlauf und Stand des Pflegeprozesses ablesbar sein. Die vorhandenen Dokumentationen seien sukzessiv zu vervollständigen. Ferner stellten die Pflegekassen fest, dass die Verpflichtung zur Leistungserbringung nach dem jeweils aktuellen Stand der pflegewissenschaftlichen Erkenntnisse auch die Beachtung der Hinweise des MDK im Prüfbericht impliziere. Ab sofort seien sämtliche Pflegeleistungen adäquat zu erbringen. Die Erledigung der einzelnen Maßnahmen sei fristgerecht nachzuweisen. Würden die festgestellten Mängel nicht fristgerecht beseitigt, könnten die Antragsgegner den Versorgungsvertrag kündigen. Auch könnten die vereinbarten Pflegevergütungen gekürzt werden, sofern die Pflegeeinrichtung ihre gesetzlichen und vertraglichen Verpflichtungen zu einer qualitätsgerechten Leistungserbringung nicht einhielte.
Gegen diesen Maßnahmenbescheid erhob die Pflegeeinrichtung Klage und beantragte zugleich im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Der Maßnahmenbescheid rechtswidrig. Die festgestellten Mängel lägen weitgehend nicht vor. Außerdem sei die Pflegeeinrichtung nicht ordnungsgemäß angehört worden und die Pflegekassen hätten ihr Auswahlermessen nicht ausgeübt. Die auferlegten Maßnahmen seien im Übrigen zu unbestimmt.
Das Sozialgericht gab dem Antrag der Pflegeeinrichtung im Rahmen einer Eilentscheidung statt. Nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage habe die Klage im Hauptsacheverfahren große Erfolgsaussichten. Die Entscheidung erfolge aufgrund einer Interessenabwägung zu Gunsten der Pflegeeinrichtung, weil sie ein großes Aussetzungsinteresse habe. Es spreche sehr viel dafür, dass der Maßnahmebescheid rechtswidrig ist. Dabei könne dahinstehen, ob die Rechtswidrigkeit aufgrund einer möglicherweise unzureichenden Anhörung der Pflegeeinrichtung vor Erteilung des Bescheides anzunehmen ist. Insoweit sei hervorzuheben, dass in § 115 Abs. 2 Satz 1 SGB XI die bereits allgemein aus § 24 SGB X folgende Anhörungspflicht besonders geregelt worden ist. Dementsprechend sind vor Erteilung eines Bescheides ggf. höhere Anforderungen an eine Anhörung zu stellen. Offen könne auch bleiben, ob die Rechtswidrigkeit daraus folgt, dass die Pflegekassen ihr durch § 115 Abs. 2 Satz 1 SGB XI eingeräumtes Auswahlermessen nicht erkennbar ausgeübt haben. Die größten Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides folgen nach Auffassung des Sozialgerichts aber daraus, dass die Pflegekassen auf der Grundlage einer unsicheren Tatsachenfeststellung entschieden hätten. Angesichts der gegen den Bericht von der Pflegeeinrichtung unter Beifügung von Belegen und Unterlagen vorgelegten sehr eingehenden, ausführlichen Stellungnahme könne ohne weitere Sachverhaltsaufklärung von einer gesicherten Tatsachenfeststellung als Grundlage für einen so einschneidenden Bescheid, wie der angefochtene Maßnahmenbescheid ihn darstellt, keine Rede sein. Der ohne Einholung zumindest einer ergänzenden Stellungnahme des MDK erteilte Bescheid erscheine geradezu als eine Maßnahme „aufs Geratewohl“ und „ins Blaue“ hinein. Ein derartiges Vorgehen entspreche nicht den Mindestanforderungen an ein rechtsstaatliches, faires Verfahren. Der angefochtene Bescheid dürfte ferner nicht den Anforderungen an die gemäß § 33 Abs. 1 SGB X gebotene hinreichende Bestimmtheit eines Verwaltungsakts genügen. Für die Beteiligten müsse vollständig, klar und unzweideutig erkennbar sein, was die Behörde will. Der Adressat des Verwaltungsakts müsse sein Verhalten danach ausrichten können. Die Handlungsanweisungen im Maßnahmenbescheid seien nicht eindeutig. Die offenbar auf der Basis von Textbausteinen formulierten Maßnahmen enthielten durchweg nur allgemeine Anforderungen, die dem Gesetz oder allgemeinen fachlichen Standards entnommen werden können. So beginne der Maßnahmekatalog mit der Floskel, dass die Pflege nach dem Prinzip der Bezugspflege organisiert und durchgeführt werden müsse. Am Ende des umfassenden Katalogs heißt es, dass „ab sofort sämtliche Pflegeleistungen adäquat zu erbringen“ seien. Konkrete Handlungsmaßnahmen werden nicht festgelegt. Vielmehr unterstellen die nahezu alle Qualitätsbereiche betreffenden „Maßnahmen“, dass eine sachgerechte Pflege in der Einrichtung nahezu zur Gänze nicht erfolgt. Träfe dies zu, was allerdings wegen der Feststellungen des MDK im Prüfbericht auszuschließen ist, wären die Pflegekassen sicherlich verpflichtet, den Versorgungsvertrag gemäß § 74 Abs. 2 SGB XI fristlos zu kündigen. Für einen Maßnahmenbescheid gemäß § 115 Abs. 2 SGB XI wäre dann kein Raum. Da dies offensichtlich nicht der Wahrheit entspreche und der Maßnahmenbescheid mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer intensiven Rechtsverletzung der Pflegeeinrichtung führe, überwiege das Aussetzungsinteresse der Pflegeeinrichtung, so dass dem Antrag stattzugeben war.
Der Entscheidung des Sozialgerichts Münster ist zuzustimmen. Die meisten Maßnamenbescheide geben unreflektiert die Empfehlungen des MDK als abzustellende Mängel wider und stellen die Qualitätsdefizite derart drastisch dar, dass ein unbefangener Leser den Eindruck gewinnt, es würden gravierende Pflegemängel auf allen Qualitätsebenen bestehen, die unmittelbar zu einer Patientenschädigung führen könnten. Dies ist in den allermeisten Fällen schlichtweg unzutreffend. Nimmt der Pflegedienst zum MDK-Prüfbericht detailliert Stellung, ist von Seiten der Pflegekassen zumindest zu erwarten, dass die Stellungnahme der Pflegeinrichtung zur Kenntnis genommen und hierauf auch eingegangen wird. Geschieht dies nicht, spricht dies für die Rechtswidrigkeit des Maßnahmenbescheids.
Tipp für die Praxis:
Geben Sie im Rahmen der Anhörung nach einer MDK-Qualitätsprüfung eine detaillierte Stellungnahme zu den vom MDK gerügten Qualitätsmängeln ab. Prüfen Sie sodann, ob der Maßnahmenbescheid Ihre Einwendungen berücksichtigt hat und ob die Maßnahmen bestimmt genug sind. Lassen Sie den Maßnahmenbescheid nicht bestandskräftig werden, falls die Feststellungen nicht zutreffen. Eine Anfechtung des Maßnahmenbescheides ist auch dann geboten, wenn Sie gegen den Transparenzbericht vorgehen wollen. Ansonsten kann die Bestandskraft des Maßnahmenbescheides dazu führen, dass Sie mit Ihren Einwendungen zum Transparenzbericht nicht mehr durchdringen können.