Verhinderungspflege kann in Form von Reisekosten der zu pflegenden Person bestehen
Ein Anspruch auf Verhinderungspflege gem. § 65 I 2 SGB XII kann auch in Form von Reisekosten der zu pflegenden Person bestehen (hier: Teilnahme an einer Ferienfreizeit in Dänemark).Die vom Sozialleistungsträger zu übernehmenden Kosten sind nicht generell auf die Kosten zu beschränken, wie sie im Rahmen einer kurzzeitigen vollstationären Unterbringung angefallen wären. Zu übernehmen sind die angemessenen Kosten. Dies hat das Landessozialgericht Schleswig-Holstein mit Urteil vom 26.11.2014 – L 9 SO 33/11 entschieden.
Der 1984 geborene Kläger ist schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 100 und pflegebedürftig. Er lebte im streitigen Zeitraum bei seinen Eltern und wurde von diesen gepflegt. Gerichtlich bestellte Betreuerin des Klägers ist seine Mutter. Der Beklagte gewährt ihm laufende Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei dauerhafter Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel SGB XII. Der Kläger arbeitet in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderungen der Ostholsteiner Behindertenhilfe gGmbH.
Am 24. Juni 2009 beantragte der Kläger Leistungen der Hilfe zur Pflege in Form der Verhinderungspflege nach den §§ 61 und 63 ff. SGB XII. Durchgeführt werden sollte die Verhinderungspflege im Rahmen einer in Dänemark in der Zeit vom 15. August bis zum 28. August 2009 stattfindenden Maßnahme durch den familienentlastenden Dienst der Lebenshilfe Ostholstein. Der tägliche Pflegesatz sollte 130,50 EUR betragen, wobei hierin Kosten für Unterkunft, Verpflegung und Fahrt in Höhe von täglich 33,50 EUR enthalten waren. Die Barmer Ersatzkasse als zuständige Pflegekasse für den Kläger hatte diesem durch Bescheid vom 16. Juni 2009 bereits einen Anteil an den Kosten als Leistung bei Verhinderung der Pflegeperson im Rahmen des Höchstbetrages bewilligt. Dieser Bescheid lag der Antragstellung bei. Mit Rechnung vom 23. September 2009 machte die Lebenshilfe Ostholstein beim Kläger noch einen Betrag in Höhe von 435,50 EUR geltend. Dieser Betrag setzt sich zusammen aus den Kosten für Transfer, Übernachtung und Verpflegung in Höhe von 33,50 EUR täglich für 13 Tage. Der Kläger reichte diese Rechnung an den Beklagten weiter.
Mit Bescheid vom 9. Oktober 2009 lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers ab. Zur Begründung führte er aus, dass die vom Kläger beantragten Leistungen für Unterkunft, Verpflegung, Investitionskosten und sonstige Zusatzleistungen keine Leistungen im Zusammenhang mit der Pflege darstellten und daher nicht gemäß der §§ 61 ff. SGB XII übernommen werden könnten.
Das LSG Schleswig-Holstein hob diesen Bescheid auf: Der Anspruch des Klägers auf Hilfe zur Pflege richtet sich nach § 65 Abs. 1 Satz 2 SGB XII. Nach dieser Vorschrift sind die angemessenen Kosten zu übernehmen, wenn für Pflegebedürftige im Sinne des § 61 Abs. 1 SGB XII neben oder anstelle der Pflege nach § 63 Satz 1 SGB XII die Heranziehung einer besonderen Pflegekraft erforderlich oder eine Beratung oder zeitweise Entlastung der Pflegeperson geboten ist. Einschlägig ist hier die Var. 3, die Gebotenheit zur zeitweisen Entlastung der Pflegeperson.
Ein Anspruch des Klägers auf Leistungen nach dem 7. Kapitel SGB XII ist nicht etwa deshalb ausgeschlossen, weil die von ihm beantragte Maßnahme, eine Ferienfreizeit in Dänemark durchzuführen, unter Umständen auch als Leistung der Eingliederungshilfe in Betracht kommen könnte. Auch wenn Rehabilitationsleistungen den Leistungen der Hilfe zur Pflege grundsätzlich vorgehen, führt der Umstand, dass möglicherweise auch Teilhabeaspekte mit der Reise des Klägers verbunden sein können, nicht dazu, dass ein Anspruch auf Hilfe zur Pflege generell ausgeschlossen wäre. Vorliegend wird vom Kläger nicht geltend gemacht, dass die begehrte Ferienreise seiner Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft dienen sollte. Offenbar war Auslöser für die Buchung der Reise vielmehr das Bedürfnis seiner Eltern nach einer zeitweisen Entlastung. Dies war der einzige Aspekt, der im Rahmen der Antragstellung am 24. Juni 2009 vom Kläger geltend gemacht wurde. Auch im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 19. Juli 2011 wurde das Bedürfnis der Mutter des Klägers, ihren eigenen Interessen einmal nachgehen zu können, dargestellt. Dass dem Kläger, anders als es bei einer kurzzeitigen Unterbringung in einer stationären Einrichtung vermutlich der Fall wäre, zugleich Teilhabeaspekte zugute kommen, ist ein begrüßenswerter Nebenumstand, jedoch kein Anspruchsausschluss. Deshalb kommt es auch nicht darauf an, dass die Gesamtleitung der Reise durch eine Sozialpädagogin durchgeführt wurde. Entscheidend ist vielmehr, dass die erforderliche Pflege des Klägers während seiner Reise durch die ebenfalls mitreisenden Zivildienstleistenden bzw. die Pflegefachkraft und die Hilfskraft für hauswirtschaftliche Verrichtungen sichergestellt war.
Die Voraussetzungen des § 65 Abs. 1 Satz 2 Var. 3 SGB XII XII liegen vor. Der Kläger gehört unstreitig zum Personenkreis der Leistungsberechtigten nach § 61 Abs. 1 SGB XII. Er wurde von seinen Eltern im Rahmen der häuslichen Pflege gepflegt. Die zeitweise Entlastung der Pflegekräfte, also der Eltern des Klägers, war vorliegend auch geboten. Dies ist einerseits zwischen den Beteiligten unstreitig und angesichts der physischen und psychischen Belastungen einer dauerhaften Pflege im eigenen Haus für den Senat glaubhaft und nachvollziehbar. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat in diesem Zusammenhang im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 19. Juli 2011 ausgeführt, dass die Eltern des Klägers die Zeit der Ferienfreizeit nutzen könnten, um für sich mal 14 Tage durchatmen und sich eigenen Interessen widmen zu können. Die Frage, welche Maßnahme zur Entlastung der Pflegeperson geboten ist, ist für den jeweiligen Einzelfall zu entscheiden (vgl. Grube in: Grube/Wahrendorf SGB XII 5. Aufl. 2014, Rn. 19; Meßling in: jurisPK-SGB XII, 2. Aufl. 2014 SGB XII 65, Rn. 61). Es kommen dafür sowohl die Inanspruchnahme ambulanter Pflegedienste als auch die vorübergehende stationäre Betreuung der pflegebedürftigen Person in Betracht. Ebenso kann die Entlastung aber auch durch eine vorübergehende Ortsabwesenheit des Pflegebedürftigen z. B. während einer Reise herbeigeführt werden (Meßling, a. a. O.; Schellhorn in: Schellhorn/Schellhorn/Hohm § 65 Rn. 20). Da die Vorschrift keine Vorgaben macht, welche Maßnahme der Hilfe zur Pflege vorzugswürdig ist, sondern lediglich den unbestimmten Rechtsbegriff der Gebotenheit zur Entlastung der Pflegeperson voraussetzt, kann nach dem Bedarfsdeckungsprinzip jede Maßnahme von der Vorschrift umfasst sein, die effektiv geeignet ist, das Ziel, hier die Entlastung der Pflegeperson, zu erreichen. Im vorliegenden Fall war die Ferienfreizeit des Klägers geeignet, die Entlastung seiner Eltern herbeizuführen. Da sowohl der Kläger als auch seine Eltern bereits Erfahrungen mit entsprechenden Reisen hatten, ist davon auszugehen, dass diese Maßnahme für alle Beteiligten als gut und effektiv empfunden wurde.
Die vom Kläger geltend gemachten Kosten für die Ferienreise in Dänemark sind auch ganz überwiegend als angemessen im Sinne des § Abs. 65 Satz 2 SGB XII 1 anzusehen.
Dem steht zunächst nicht der Umstand entgegen, dass zwischen dem Beklagten und der Lebenshilfe Ostholstein als Träger der beantragten Maßnahme keine Leistungsvereinbarung gemäß § 75 Abs. 3 SGB XII besteht. Abs. 651 Satz 2 SGB XII setzt insoweit nur voraus, dass die Kosten geboten und angemessen sein müssen. So sind insbesondere auch Kosten denkbar, die völlig unabhängig von der Hilfe durch eine Einrichtung oder durch einen Dienst entstehen könnten, beispielsweise Fahrtkosten zu einer anderen familiären Betreuungsperson. Würden Kosten für die Inanspruchnahme einer Einrichtung oder eines ambulanten Pflegedienstes entstehen, müsste sich ihre Geltendmachung an den § 75 ff. SGB XII messen lassen. Dies war jedoch vorliegend nicht der Fall. Die wahrgenommene Ferienfreizeit fand weder innerhalb einer Einrichtung statt noch wurde sie von einem ambulanten Dienst durchgeführt. Maßstab für die Höhe der zu übernehmenden Kosten ist daher, wie bereits festgestellt, allein die Frage der Angemessenheit der Kosten.
Dabei sind zumindest die Kosten als angemessen anzusehen, die auch im Rahmen einer kurzzeitigen vollstationären Unterbringung anfallen würden. Insoweit kann sich der Beklagte auch nicht darauf berufen, dass von Abs. 651 Satz 2 SGB XII lediglich pflegerische Kosten umfasst seien, während Kosten für Unterkunft, Verpflegung oder Fahrten zu dem anderen Betreuungsort ausgeschlossen seien. Bei jeder außerhäusigen Unterbringung der Pflegeperson fallen neben den Pflegekosten auch die der Versorgung, Unterbringung und Fahrt zum Unterbringungsort an. Unter Berücksichtigung der vom Beklagten im Jahr 2009 im Falle der Unterbringung in einer vollstationären Einrichtung geleisteten Grundpauschale in Höhe von 15,84 EUR und einem Investitionsbetrag in Höhe von 8,60 EUR ergibt sich ein über dem pflegerischen Anteil hinausgehender Tagessatz in Höhe von 24,44 EUR. Für die 13-tägige Maßnahme würde sich insofern ein Mindestbetrag in Höhe von 317,72 EUR ergeben.
Der Wunsch des Klägers, für die Zeit, in der seine Eltern eine Entlastung benötigten, eine Ferienfreizeit durchzuführen, ist insofern grundsätzlich berücksichtigungswert. Er trägt zudem dem in § 9 Abs. 2 S. 2 SGB XII vorgesehenen Vorrang von ambulanten gegenüber stationären Leistungen Rechnung. Die Erfüllung des Wunsches war auch nicht mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden. Im Vergleich zu den als Mindestkosten ohnehin anfallenden 317,72 EUR macht der Kläger hier 435,50 EUR geltend, so dass von Mehrkosten in Höhe von 117,78 EUR auszugehen ist. Im Vergleich zu den für die Reise anfallenden Gesamtkosten in Höhe von 1.696,50 EUR handelt es sich um einen verhältnismäßig geringen Mehrkostensatz. Diese relativ geringen Mehrkosten sind nicht als unverhältnismäßig anzusehen, wenn man auf der anderen Seite berücksichtigt, dass damit eine stationäre Unterbringung des Klägers vermieden werden kann und dass davon auszugehen ist, dass die Zeit der Ferienreise für ihn eine deutlich angenehmere und schönere Zeit darstellt, als es die Unterbringung in einer für ihn fremden Einrichtung sein könnte. Dass hier als Nebeneffekt sehr wahrscheinlich auch die Teilhabe des Klägers am Leben in der Gemeinschaft gefördert wurde, zumindest mehr als dies im Rahmen einer kurzzeitigen Unterbringung in einer stationären Einrichtung hätte geschehen könnte, ist als positiver Begleitumstand anzusehen. Schließlich ist auch zu beachten, dass der Erholungswert für die Eltern des Klägers umso größer sein dürfte, wenn der Kläger nicht in der Nähe, etwa in der nächstgelegenen stationären Einrichtung, untergebracht ist, weil jenes ggf. wiederum mit Besuchen durch die Eltern oder mit einem Bemühen um die Lösung beim Auftreten von Problemen verbunden sein könnte.