Krankenkasse muss Kosten für 24-Stunden-Intensivpflege übernehmen

Die hier zitierten Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) können unter www.bundessozialgericht.de unter der Rubrik Entscheidungen und Angabe des Aktenzeichens/Datums im Volltext und kostenfrei abgerufen werden. Die Urteile der Sozialgerichte (SG) und Landessozialgerichte (LSG) können in der Regel unter der Rubrik Entscheidungen und Angabe des Aktenzeichens/Datums im Volltext auf der Seite www.sozialgerichtsbarkeit.de abgerufen werden.

LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 14.11.2006 (L 2 KN 108/06 KR)
Bayerisches LSG, Beschluss vom 17.11.2006 (L 4 B 817/06 KR ER)
SG Würzburg, Beschluss vom 09.05.2007 (S 6 KR 123/07 ER)
 SG Stuttgart, Beschluss vom 27.07.2007 (S 8 KR 4681/07 ER)

(im September 2007 Rechtsanwalt Dr. Johannes Groß)

Krankenkasse muss Kosten für 24-Stunden-Intensivpflege übernehmen

Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts aus dem Jahre 1999 (Urteil vom 28.01.1999 – B 3 KR 4/98 R), nach der beim Zusammentreffen von Krankenbeobachtung und Grundpflege die Behandlungspflege grundsätzlich in den Hintergrund trete, so dass insoweit nur die Leistungspflicht der Pflegekasse bestehe, stößt in der Rechtsprechung der Sozial- und Landessozialgerichte zunehmend auf Kritik. Mehrere sozialgerichtliche Urteile sprechen sich für eine Kostenverpflichtung der Krankenkasse bei intensivpflegebedürftigen Versicherten über 24 Stunden aus.

So hatte das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen in seinem Urteil vom 14.11.2006 (L 2 KN 108/06 KR) den Fall eines 1941 geborenen, in Folge eines Verkehrsunfalls querschnittsgelähmten Versicherten zu entscheiden, der wegen respiratorischer Insuffizienz über 24 Stunden täglich beatmet werden musste. Insbesondere aufgrund der dauerhaften Beatmung und der Notwendigkeit wiederholten trachealen Absaugens wurde Behandlungspflege rund um die Uhr durch eine Pflegefachkraft verordnet. Außerdem wurde wegen des außergewöhnlich hohen Pflegeaufwands von der Pflegekasse Leistungen wegen SchwerstPflegebedürftigkeit nach Härtefallregelung („Pflegestufe 4“) gewährt. Die beklagte Krankenkasse kürzte daraufhin die Kostenübernahme für die Behandlungspflege auf 16 Stunden täglich. für die übrigen 8 Stunden täglich sei die Pflegeversicherung zuständig. Der Kläger machte zunächst geltend, Anspruch auf eine weitere Stunde Behandlungspflege täglich zu haben, da er die hauswirtschaftliche Versorgung nicht durch den Pflegedienst, sondern durch seine Ehefrau erbringen lasse. Dieser Zeitaufwand könne daher nicht bei der Kostenübernahme für die Behandlungspflege in Abzug gebracht werden. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat die beklagte Krankenkasse daraufhin zur weiteren Kostenübernahme verurteilt und gleichzeitig festgestellt, dass sich dem über 24 Stunden bestehenden Sachleistungsanspruch gegenüber der Krankenversicherung nicht entgegenhalten läßt, der Kläger erhalte zugleich Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung. Soweit die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts diesen Einwand mit der Begründung zuzulassen scheine, dass während der Erbringung der Leistungen der Grundpflege die Behandlungspflege grundsätzlich in den Hintergrund trete, so dass dann nur die Leistungspflicht der Pflegekasse bestehe, sei nicht erkennbar, welche Rechtsnorm damit zur Anwendung kommen solle. Auch bei Grundpflege sei parallel weiter Behandlungspflege zu erbringen, trete sie nun in den Hintergrund oder nicht. Die möglichst weitgehende Erledigung beider Aufgaben durch ein und dieselbe Pflegekraft entspreche zwar dem Gebot der Wirtschaftlichkeit, dies rechtfertige es aber nicht ohne weiteres, die Krankenkasse von den gesamten Kosten zu entlasten. Eine wirtschaftliche Aufgabenerfüllung könne allenfalls durch Vereinbarungen zwischen Pflege- und Krankenkasse erzielt werden. Die grundsätzlich nebeneinander bestehenden Sachleistungsansprüche des Versicherten bleiben davon unberührt. Ein Zurücktreten der Behandlungspflegeleistungen hinter die Leistungen der Pflegeversicherung komme im Übrigen dann nicht in Betracht, wenn der Kläger sich im Rahmen des Wahlrechts gemäß § 36 – § 38 SGB XI ausübt und diese entweder vollständig von einer privaten Pflegeperson im Rahmen der Geldleistung oder im Rahmen einer Kombination zwischen Sach- und Geldleistung teilweise von einer privaten Pflegeperson erbringen lässt. Denn dann sei es gar nicht möglich, dass ein und dieselbe Pflegeperson Leistungen sowohl der Behandlungspflege als auch der Grundpflege gleichzeitig erbringt. Das Wahlrecht gemäß § 36 – § 38 SGB XI trage den Gedanken der Eigenverantwortlichkeit und der Selbstbestimmung des Pflegebedürftigen Rechnung. Es handle sich um ein originäres, dem Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) entstammendes Recht, so dass als Folge der Entscheidung des Versicherten jedenfalls für die Zeit, in der die Grundpflege durch eine private Pflegeperson erbracht wird, die Behandlungspflegeleistung nicht in den Hintergrund treten könne.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen die Entscheidungen des Bayerischen Landessozialgerichts vom 17.11.2006 (L 4 B 817/06 KR ER) sowie der Sozialgerichte Würzburg vom 09.05.2007 (S 6 KR 123/07 ER) und Stuttgart vom 27.07.2007 (S 8 KR 4681/07). In den entschiedenen Fällen bestand Ateminsuffizienz mit 24-stündiger Beatmungspflicht und spezieller Krankenbeobachtung. Die Krankenkassen hatten die Kostenübernahme wiederum mit dem Argument eingeschränkt, die restliche Zeit übernehme bei bestehender Pflegebedürftigkeit die soziale Pflegeversicherung. Dem widersprachen die Sozialgerichte. Selbst wenn man die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zugrunde lege, führe dies nicht zu einer Verlängerung der Leistungspflicht der Krankenkasse. Denn nach den ärztlichen Bescheinigungen sei die ständige pflegerische Betreuung einer zumindest versierten Fachkraft erforderlich. Im Übrigen scheide eine Anrechnung aus, sofern der Pflegedienst selbst keine grundpflegerischen Leistungen verrichte, sondern dies von einer Pflegeperson übernommen werde.

Diese Rechtsprechung ist uneingeschränkt zuzustimmen. Eine Einschränkung der Leistungspflicht der Krankenkasse ergibt sich weder aus dem Gesetz noch aus der BSG-Rechtsprechung des Jahres 1999. Das Bundessozialgericht hat in seinem damaligen Urteil ausgeführt, dass sich eine zweckmäßige und wirtschaftliche Aufgabenerfüllung im Bereich der Behandlungspflege einerseits und im Bereich der Grundpflege nebst hauswirtschaftlicher Versorgung andererseits nur durch entsprechende Vereinbarungen zwischen Kranken- und Pflegekasse erreichen lasse. Benötige etwa ein schwerst Pflegebedürftiger rund um die Uhr Behandlungspflege und würden durch den Pflegedienst zugleich täglich Pflegesachleistungen erbracht, so sei die Krankenkasse nicht auch zur Erbringung der Grundpflege und der hauswirtschaftlichen Versorgung zuständig. Hierfür bleibe weiterhin die Pflegekasse zuständig. Die Zuständigkeit der Krankenkassen zur Erbringung der Behandlungspflege – bei Erforderlichkeit auch rund um die Uhr – wurde vom Bundessozialgericht jedoch nie in Frage gestellt. Eine Kostenaufteilung zwischen Krankenkasse und Pflegekasse erfolgt dann, wenn der Versicherte beide die Leistungen, die jeweils geschuldet werden, von der gleichen Pflegeperson erbringen läßt. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Krankenkasse für die Erbringung der Behandlungspflege rund um die Uhr zuständig ist und diese Behandlungspflege rund um die Uhr zu erbringen hat. Es besteht für die Krankenkasse lediglich die Möglichkeit, sich einen Teil der Kosten durch entsprechende Vereinbarung mit der Pflegekasse von dieser erstatten zu lassen. Auf den Anspruch des Versicherten gegen die Krankenkasse hat dies jedoch keinen Einfluss.

Im Übrigen dürfte sich eine Aufteilung der Kosten zwischen Kranken- und Pflegekasse aufgrund der zum 01.04.2007 geänderten Gesetzeslage verbieten. Durch das GKV-WSG ist nunmehr seit dem 01.04.2007 § 37 Abs. 2 SGB V dahingehend geändert worden, dass alle verrichtungsbezogenen medizinischen Pflegemaßnahmen vom Anspruch auf Behandlungspflege auch dann umfasst sind, wenn sie beim Grundpflegebedarf berücksichtigt worden sind. Das Gesetz sieht somit ausdrücklich die parallele Zuständigkeit beider Kostenträger vor. Ausnahmslos alle Maßnahmen der Behandlungspflege sind somit von der Krankenkasse zu finanzieren, und zwar auch dann, wenn sie in einem untrennbaren oder objektiv notwendig in einem zeitlich engen Zusammenhang mit der Grundpflege stehen, was bei einer 24-stündigen Intensivpflege der Fall ist. Eine Verschiebung von Leistungen der Krankenversicherung in dem Bereich der Pflegeversicherung soll nach dem Willen des Gesetzgebers ausdrücklich vermieden werden. Es ist nunmehr gesetzlich eindeutig eine parallele Zuständigkeit der Kranken- und Pflegeversicherung vorgesehen. Sofern sich Versicherte im Übrigen dafür entscheiden, die Grundpflegeleistungen nicht vollständig bzw. gar nicht von einem Pflegedienst als Sachleistung erbringen zu lassen, sondern durch private Pflegepersonen, kommt eine Einschränkung m.E. überhaupt Fall nicht in Frage. Denn insoweit erbringen verschiedene Personen die Leistungen der Behandlungspflege einerseits und die Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung andererseits. Unwirtschaftlichkeit wird man den Versicherten insoweit nicht vorhalten können, da sie lediglich ihr im Gesetz vorgesehenes Wahl- und Gestaltungsrecht ausüben, das auch grundgesetzlich durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützt ist. Dem Wirtschaftlichkeitsgebot kann in solchen Fällen nur durch Vereinbarungen zwischen Kranken- und Pflegekassen Rechnung getragen werden, die aber nicht zu Lasten der Versicherten gehen können.

Für diese Betrachtungsweise spricht letztlich auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das in seinem Grundsatzurteil zu noch nicht anerkannten Behandlungsmethoden für schwerst kranke Menschen vom 06.12.2005 ausführt: „Es ist mit Art. 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar, den Einzelnen unter bestimmten Voraussetzungen einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung zu unterwerfen und für seine Beiträge die notwendige Krankheitsbehandlung gesetzlich zuzusagen, ihn andererseits aber, wenn er an einer lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, (…) von der Leistung (…) auszuschließen und ihn auf eine Finanzierung der Behandlung außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zu verweisen.“

Es bleibt abzuwarten, ob sich die Tendenz in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung – gegebenenfalls unter Berufung auf die neue Rechtlage seit 01.04.2007 – verfestigt, oder ob der Gesetzgeber erneut klarstellend eingreifen muss.